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Der Fachkräftemangel betrifft derzeit alle Branchen – insbesondere im ländlichen Raum. Das diakonische Sozialunternehmen Die Zieglerschen hat einen Umgang damit gefunden. Wie der aussieht, hat uns die Verantwortliche für Personalmarketing und Recruiting Judith Luik erzählt.

Seit mehr als 175 Jahren betreiben Die Zieglerschen mit Hauptsitz im oberschwäbischen Wilhelmsdorf Kliniken, Seniorenzentren, Schulen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Internate, Kindergärten, Therapiezentren, Beratungsstellen und vieles mehr. Ohne geeignete Fachkräfte würden diese wichtigen Sozialeinrichtungen nicht funktionieren.

Diese zu finden, ist die Aufgabe von Judith Luik und ihrem fünfköpfigen Team. Warum man mit dem Recruiting nicht früh genug anfangen kann, wie die Zieglerschen mit dem zunehmenden Fachkräftemangel umgehen und warum Weltoffenheit eine Lösung darstellt, das hat uns die Verantwortliche für Personalmarketing und Recruiting verraten. Ehrlich, ohne Herausforderungen schön zu reden und mit jeder Menge Tipps aus der Praxis

Das Thema Fachkräftemangel kennen viele ländliche Organisationen nur allzu gut. Wie geht es den Zieglerschen damit?  

Judith Luik: Der Fachkräftemangel hat uns in manchen Geschäftsbereichen mit voller Breitseite getroffen, in anderen weniger. Im Pflegebereich, vor allem der Altenpflege kämpfen wir damit bereits jahrelang. Das merkt man jetzt allerdings auch: Es ist der Bereich, in dem wir aufgrund der vielen Erfahrung am professionellsten im Personalmarketing aufgestellt sind.

Mittlerweile ist aber nicht nur der Pflegebereich betroffen, sondern fast alle Berufsgruppen. Auch in der Verwaltung, wo wir jahrelang keine Probleme hatten, merken wir jetzt einen größeren Konkurrenzkampf mit anderen Branchen. Da erreichen wir längst nicht mehr die Anzahl der Bewerbungen, die wir noch vor fünf Jahren hatten. 

Du sprichst im Pflegebereich von einem professionellen Umgang mit dem Fachkräftemangel. Was hast du über die Jahre gelernt?  

Judith Luik: Einerseits versuchen wir, auf die Anforderungen des Markts und der Interessent*innen zu reagieren. Wir sind bemüht, bei Bewerbungen schnell Rückmeldung zu geben und Bewerbungen nicht lange liegen zu lassen, sondern schnellstmöglich persönlichen Kontakt herzustellen. Da rufen wir auch schon mal an und schreiben nicht nur E-Mails, um im besten Fall möglichst schnell einen Arbeitsvertrag vorlegen zu können.

Wenn der Mangel groß ist, sind natürlich auch die Führungskräfte bereit, schneller zu reagieren. Andererseits versuchen wir schon vor der Bewerbung mit dem richtigen Marketing, Nachwuchsführungskräfte für soziale Berufe zu gewinnen und zu binden.   

In der Altenhilfe haben wir das Projekt der Bildungspartnerschaften breit ausgerollt.

Wie macht ihr das?  

Judith Luik: In der Altenhilfe haben wir das Projekt der Bildungspartnerschaften breit ausgerollt. Alle Standorte gehen mit den Schulen vor Ort sogenannte Bildungspartnerschaften ein oder haben zumindest schriftlich vereinbart, wie sie mit Schulen kooperieren möchten. Da kommen beispielsweise Schüler*innen in Altenheime, um einmal in der Woche mit Senior*innen zu spielen, ihnen vorzulesen.

Das sind nur einige der Partnerschaftsmodelle. Leider kam sechs Monate später Corona, und viele Ideen blieben als Absichtserklärungen im leeren Raum. Wir sind bemüht, diese Aktivitäten wieder ins Leben zu rufen.  

Was versprecht ihr euch davon?  

Judith Luik: Wir merken, je früher wir junge Menschen nicht nur durch Erzählen, sondern durch praktische Erfahrung heranführen, desto besser für uns. Dank dieser persönlichen Erfahrungen können wir auch dem Bild der nicht attraktiven Pflege vorbeugen, mit dem wir auch zu kämpfen haben.

Merkst du einen Unterschied zwischen ländlich und städtisch geprägten Standorten in Sachen Fachkräfteengagement?  

Judith Luik: Dieser Unterschied kommt bei uns nicht so wahnsinnig zu tragen, weil wir wirklich fast nur im ländlichen Raum vertreten sind. Auch die Standorte im Großraum Stuttgart können als ländlich eingestuft werden. Wir merken aber im Gespräch mit anderen Einrichtungen in Ballungsgebieten, dass der Mangel alle betrifft. Da gilt es, die eigenen Attraktivitätskriterien hervorzuheben.  

Wir unterstützen unsere Mitarbeitenden bei der Wohnungssuche und bieten ein geleastes Dienstfahrrad an.

Welche sind das bei ländlichen Organisationen?  

Judith Luik: Natürlich haben wir Nachteile, was Erreichbarkeit und Infrastruktur angeht. Wir werden immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie Menschen zum Dienst kommen, wenn es die öffentlichen Verkehrsmittel nicht hergeben. Hier versuchen wir unsere Mitarbeitenden zu unterstützen. Zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Eine weiteres Angebot ist das Leasing eines Dienstfahrrads. Hierfür arbeiten wir mit Lease-a-bike zusammen. So schaffen wir die Möglichkeit, mobiler zu sein.

Zusätzlich hat uns auch das 9-Euro-Ticket gut in die Karten gespielt und war an vielen Stellen eine große Hilfe. Um wirklich ländliche Einrichtungen attraktiver zu machen, weil Menschen hierher und wieder weg kommen, braucht es natürlich die Politik. Aber wir versuchen auch unsere eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen.  

Du hast jetzt nur Nachteile erwähnt. Was sind Vorteile ländlicher Standorte?  

Judith Luik: In ländlichen Regionen ist es für Familien einfacher möglich, einen größeren, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Das macht das Land attraktiver als die Stadt. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass sich unsere Standorte in der Bodenseeregion, in Oberschwaben und in der Schwäbischen Alb befinden und damit viele Freizeitmöglichkeiten bieten.

Ganz nach dem Motto: Arbeiten, wo andere Urlaub machen. Ich bin selbst in der Region aufgewachsen und merke, dass viele Freunde und Bekannte, die zum Studieren weggegangen sind, wieder zurückkommen. Spätestens, wenn sie in der Phase der Familiengründung sind. Diese Tendenz gab es schon immer, ich habe aber das Gefühl, dass sie zunimmt.

Unsere Führungskräfte machen auch vor Ort viel, was wir in der Zentrale nicht mitbekommen. Das ist ein Vorteil, dass es im ländlichen Raum eine deutlich bessere Anbindung ans Umfeld, an den Sozialraum und die Gemeinden gibt.

Dass vieles dezentral gut funktioniert, merken wir im Kommunikationsbereich. Da werden wir oft engagiert, um Wohnungsanzeigen zu gestalten, die dann in den Gemeindeblättern oder im Social-Media-Bereich veröffentlicht werden sollen. Vieles läuft über die Einrichtungsleitung vor Ort, die den Wohnungsmarkt kennt. 

Du hast vorhin die Corona-Krise erwähnt, die Bildungsprojekte zum Halt gebracht hat. Hast du weitere Veränderungen durch die Pandemie gespürt?  

Judith Luik: Wir spüren mehrere Effekte. Positiv hervorzuheben – und das bekommen wir auch gespiegelt – ist, dass die Teamstruktur, der Zusammenhalt der Einrichtungen vor Ort und der Wert des Teams im direkten Umfeld deutlich an Stärke gewonnen haben. Wir bemerken aber auch negative Aspekte: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht macht uns zu schaffen. Da verlieren wir auch Mitarbeitende.

Und letztendlich merken wir, dass Menschen in Pflegeberufen nicht nur uns als Arbeitgeber verlassen, sondern aufgrund der hohen Belastung aus dem gesamten Bereich aussteigen.  

Habt ihr eure Maßnahmen verstärkt, um diesen Abgängen entgegenzuwirken?  

Judith Luik: Wir versuchen einerseits als Unternehmen attraktiver zu werden und gute Angebote zu schaffen, wie etwa das Job-Bike oder dass Mitarbeitende über die Plattform Corporate Benefits rabattiert einkaufen können. Aber was Menschen zum Bleiben bewegt, sind oft Faktoren vor Ort. Da bemühen wir uns bei der Dienstplanung auf die Bedürfnisse der Einzelnen einzugehen, wobei das natürlich Grenzen hat. Schließlich müssen wir alle Dienste abdecken.

Wir versuchen auf Lebenssituationen einzugehen und dotieren es tariflich, wenn jemand frei hat und einspringt.


Dennoch versuchen wir auf Lebensphasen einzugehen und zu reagieren. Wenn Mütter nur vormittags und Väter nur nachmittags arbeiten können zum Beispiel. Da stecken wir viel, viel Mühe hinein. Außerdem wird es tariflich dotiert, wenn man frei hat und einspringt. Die Maßnahmen gehen also vom Großen bis ins Kleine.

Zusätzlich versuchen wir auch die politische Bühne zu bespielen. Wir als Diakonie waren im Tarifbereich immer schon stärker unterwegs, aber die politischen Verantwortungsträger müssen helfen, dass das Berufsbild insgesamt mehr Geld erhält. Da sind wir auch im Austausch mit Politik und versuchen, einen öffentlichen Diskurs herzustellen.  

Ihr stellt nicht nur Fachkräfte ein, sondern rekrutiert auch Auszubildende – unter anderem über das “Kosovo-Projekt” aus dem Ausland. Was ist das genau?  

Judith Luik: Das Kosovo-Projekt ist ein sehr erfolgreiches Verbundprojekt des diakonischen Werks Baden-Württemberg, das bereits im fünften Jahr läuft. Über unseren starken Kooperationspartner vor Ort rekrutieren wir Auszubildende für Pflegeberufe – und dieses Jahr erstmals für Heilerziehungsberufe – aus den Balkanländern. Als diakonisches Unternehmen haben wir immer auch einen ethischen Anspruch an uns selbst und werden beispielsweise nicht aus Ländern rekrutieren, in denen ein Pflegemangel herrscht. Wir wollen nicht nur Menschen nach Deutschland holen, sondern auch was zurückgeben.

Wir fragen uns: Was bedeutet es für die einzelne Person finanziell, aber auch kulturell, für uns zu arbeiten? Darum prüfen wir, wie sich die Menschen ihre Deutschkurse vor Ort finanzieren können. Denn sie brauchen ein bestimmtes Deutschniveau, um herkommen zu können. Hier haben wir mit den Projektpartner*innen vor Ort eine gute Struktur ausgemacht, und die Arbeitgeber*innen finanzieren den Großteil der Sprachkurse. Wir schauen außerdem darauf, dass die Menschen hier gut integriert sind und stellen ihnen Wohnraum zu Verfügung.  

Von wie vielen Menschen sprechen wir?  

Judith Luik: Pro Jahr werden um die 90 bis 100 Auszubildenden rekrutiert, zu den Zieglerschen kommen zwischen 25 und 30. Das ist eine stabile Zahl und für uns eine wichtige Säule in der Personalgewinnung. Ich sage explizit, es ist eine Säule und nicht die einzige.

Ein Erfolgsfaktor der Integration: Einrichtungen schaffen es, die Leute zu binden und zu halten.


Andere kommen über den Freiwilligendienst etwa aus Marokko nach Deutschland, bleiben dann für eine Ausbildung und gehen in den Fachkraftstatus über. Nur wenige bleiben nach der Ausbildung nicht, gehen zurück, wandern zu anderen Trägern oder ins Krankenhaus ab.

Auch das ist für uns ein Erfolgsfaktor der Integration: Einrichtungen schaffen es, die Leute zu binden und zu halten. So ist übrigens auch die Akquise ein Selbstläufer, weil sich die jungen Leute untereinander austauschen. Halbe Familien sind hier und arbeiten für uns. Natürlich achten wir darauf, dass sie räumlich zusammen bleiben, um die familiären Strukturen beibehalten zu können.  

Wie wichtig sind diese Fachkräfte aus dem Ausland – oder anders gefragt: Könnten wir den Mangel auch aus Deutschland allein abdecken?  

Judith Luik: Nein, wir können den Fachkräftemangel aus Deutschland nicht abdecken. Es lässt sich auch in Zahlen belegen, dass durch die Fachkräfte aus dem Ausland die Zeitarbeit in Einrichtungen deutlich reduziert werden kann. Unsere Devise lautet: Wir haben etwas gegen den Fachkräftemangel, und zwar Weltoffenheit.  

Funktioniert das Rezept der Weltoffenheit nur für Pflegeberufe?  

Judith Luik: Das funktioniert auch in anderen Bereichen. Beispielsweise haben wir über das Freiwillige Soziale Jahr in unserer Behindertenhilfe seit vielen Jahren einen größeren Zuspruch, ohne dass wir es gesteuert haben. Davor sollten sich auch Non-Profits nicht versperren. Zwar müssen die Einrichtungen selbst viel geben und machen – die Sprache ist zum Beispiel ein Riesenthema.

Was den Spracherwerb angeht, muss man umfangreich unterstützen und Angebote schaffen. Doch es lohnt sich und ist eine schöne Aufgabe. Viel passiert auch in den Häusern und Einrichtungen. Etwa in Form spezieller Abende, an denen Mitarbeitende aus ihren Ländern kochen. So findet Austausch statt und man schaut über den eigenen Tellerrand

Wo findet ihr sonst Fachkräfte?  

Judith Luik: Wir nutzen die üblichen Kanäle: Print und in den letzten Jahren verstärkt Online- und Social-Media-Plattformen. Dort versuchen wir die Arbeitgebermarke zu stärken, streuen aber auch klassische Stellenausschreibungen über die einschlägigen Kanäle. Ich glaube, der Mix macht es aus. Wir sind immer wieder selbst an dem Punkt, uns zu fragen, was etwas bringt. Es ist schwierig zu beantworten. Was für eine Stelle in einer Region funktioniert, klappt in der anderen Ortschaft manchmal gar nicht.  

Das Finden von Mitarbeitenden ist das Eine. Aber wie stellt ihr sicher, dass es sich um die richtigen Mitarbeitenden handelt?  

Judith Luik: Das ist schwierig und in Zeiten von Mangel noch schwieriger zu beantworten. Grundsätzlich müssen sich beide Seiten aufeinander einlassen. Wir führen natürlich Vorstellungsgespräche und versuchen herauszufinden, ob jemand zum Team passt oder nicht. Es findet ein Onboarding mit strukturierter Einarbeitung statt, zusätzlich bieten wir Orientierungstage für neue Mitarbeitende an, in denen das Unternehmen vorgestellt wird und wir unsere vielfältigen Angebote erlebbar machen.

Dennoch stehen wir oft vor der Entscheidung, jemanden einzustellen, der weniger gut passt oder die uns anvertrauten Menschen nicht betreut zu bekommen. Auch solche Entscheidungen müssen Führungskräfte vor Ort treffen. Da gelingt uns nicht immer eine hundertprozentige Passgenauigkeit. Wir versuchen es aber dennoch.

Wir haben ein Programm eingeführt, das “Mitarbeitende werben Mitarbeitende” heißt. Wenn die Einstellung über diese Direktansprache geht, ist die Passgenauigkeit oft höher.


Wir haben darüber hinaus ein Programm eingeführt, das “Mitarbeitende werben Mitarbeitende” heißt. Wenn die Einstellung über diese Direktansprache geht, ist die Passgenauigkeit oft höher. Wenn ein Physiotherapeut aus dem Haus x über eine persönlich Beziehung einen Kollegen fürs Haus y empfiehlt, passt es oft besser, weil gewisse Wertvorstellungen schon von vornherein im Einklang sind.

Zudem haben wir als diakonisch-christliches Unternehmen mit starker Wertebehaftung und -treue einen Vorteil. Das weckt auch das Interesse bei jüngeren Menschen, denen vielleicht nicht die Kirche selbst, sehr wohl aber christliche Werte wichtig sind. 

Du hast bereits den Vorteil durch die Anbindung an die Diakonie angesprochen. Auch aufgrund eurer Größe habt ihr es vermutlich leichter, Fachkräfte zu finden und durch die vielen Möglichkeiten in der Organisation zu halten. Welche Praxistipps gibst du anderen mit? 

Judith Luik: Wir versuchen, nichts ins Schaufenster zu stellen, was man bei uns nicht vorfindet. Ich bemühe mich, das auch zu leben. Authentisch zu sein und die Dinge klar zu benennen. Auch unsere Welt ist nicht rosarot, auch wir haben mit Herausforderungen zu tun, mit denen wir einen Umgang finden müssen. Das können auch andere: Nahbar sein ist wichtig, ansprechbar sein. Die Sinnhaftigkeit der Arbeit in den Vordergrund stellen und Mitarbeitende, die das selbst erfahren, ihre eigene Geschichte erzählen lassen.

Wir haben kürzlich eine Mitarbeitendenbefragung zum Schwerpunkt “gesundes Arbeiten” durchgeführt und gefragt: Was sind Aspekte der Gesundheit? Unterstützung im Kleinen ist ein wichtiges Thema. Das hält die Menschen, beflügelt sie und lässt sie jeden Tag gern zur Arbeit kommen. Ein Ergebnis der Befragung war, dass Sinnhaftigkeit von sehr vielen Mitarbeitenden als eine Art “Glücksmoment” erlebt wird und für das gesunde Arbeiten wichtig ist. 

Expertin: