Der Sozialheld*innen e.V. entwickelt Lösungen für mehr Teilhabe und Barrierefreiheit. Mit Förder- und Spendengeldern allein ist das nicht möglich, daher generiert der Verein Einnahmen. “Wir sind ein gemeinnütziger Verein, denken unternehmerisch, arbeiten wie eine Agentur und sind agil wie ein Startup”, sagt Mitgründer Raul Krauthausen. Hier gibt er Einblicke in die Praxis, von denen man sich so einiges abschauen kann.
Raul Krauthausen ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Vor fast 20 Jahren hat er den Verein Sozialheld*innen mitgegründet – mit einer angeschlossenen Körperschaft, deren Gewinne zurück in den Verein fließen. Eine für den Non-Profit-Sektor damals sehr ungewöhnliche Herangehensweise mit unternehmerischem Mindset. Bis heute entwickeln die Sozialheld*innen kontinuierlich neue Ansätze, immer mit dem Ziel, unabhängiger von Förderungen zu werden und dabei stets der Vision und Mission zu folgen.
Wie kann das gelingen? Raul teilt seine Learnings zu Finanzierung, Angebotsentwicklung und Marktpositionierung mit dem SKala-CAMPUS. Über das Gespräch haben wir uns ganz besonders gefreut, weil er vielbeschäftigt und auf Lesereise mit seinem neuen Buch “Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden” war.
Wie ist das Geschäftsmodell der Sozialheld*innen entstanden?
Raul Krauthausen: Wir hatten nie die Idee, jemals ein Geschäftsmodell zu haben. Wir haben sehr lange unsere private Zeit und unser privates Geld investiert. Irgendwann haben wir gemerkt: Wenn wir das nachhaltig machen wollen, müssen wir zumindest jemanden bezahlen, der mit uns neue Ideen entwickelt und bestehende Dinge weiter managt, ohne den Vorstand zu blockieren. Der Vorstand sollte ja den Laden weiterentwickeln und nicht am Leben halten. Zuerst haben wir eine 400-Euro-Kraft für die Bürokratie eingestellt. Das nötige Geld haben wir zusammengekratzt, aber irgendwann hat es nicht mehr gereicht.
Also haben wir einen Geschäftsführer eingestellt, der zwar wesentlich teurer war, aber das Ganze auf ein professionelleres Level gehoben hat. Er entwickelte über die Jahre eine Strategie für einen Dreier-Mix aus Fördergeldern, Spendengeldern und einem betriebswirtschaftlichen Zweckbetrieb.
Der Zweckbetrieb wurde durch ein viertes Modul ergänzt: Wir beraten Unternehmen, Konzerne und die Politik in den Bereichen Barrierefreiheit und Inklusion. Wir testen auch Produkte auf Barrierefreiheit. Das lassen wir uns ganz klassisch unternehmerisch über unsere angeschlossene Körperschaft bezahlen.
Mit der Zeit haben wir uns eine gewisse Expertise aufgebaut. Je mehr Expertise wir hatten, desto besser konnten wir sie weiterverkaufen. Wenn man uns vor 20 Jahren gefragt hätte, ob wir eine Website oder ein Produkt auf Barrierefreiheit testen können, hätten wir das nicht geschafft. Ich glaube, man muss sich einfach regelmäßig die Frage stellen: Was haben wir gelernt, was können wir besser als andere, weil wir das schon seit Jahren machen? Und dann ein Preisschild dranhängen. Sonst bleibt man ewig beim Ehrenamt.
Wie entwickelt ihr eure Angebote?
Die Angebote kommen aus unseren Köpfen. Wir wollen das Leben behinderter Menschen im Alltag verbessern, weil die Belegschaft größtenteils behindert ist.
Wir haben uns angeschaut: Was machen wir seit Jahren? Was werden wir regelmäßig gefragt? Was antworten wir darauf? Und wer antwortet was? Dann haben wir uns zusammengesetzt und das in Module eingeteilt. Wir machen viel IT-Beratung und Beratung zu Community Management. Wir testen auf Barrierefreiheit, aber wir geben auch Workshops und Antibias-Trainings in Unternehmen. Für das, was wir selbst nicht können, kaufen wir uns externe Expert*innen ein. Im Prinzip machen wir eine 360-Grad-Beratung rund um Inklusion und Barrierefreiheit.
Kommunikationsperspektive heraus die Nöte derer zu verstehen, die sich mit unseren Themen noch nicht auseinandergesetzt haben. Zum Beispiel fragen wir uns, welche Tipps ein*e Journalist*in für einen Artikel über Behinderung braucht, um möglichst klischeefrei über behinderte Menschen zu berichten. Welche Wörter sollte er oder sie nicht benutzen?
Man kann uns aber nicht für das Lösen von Problemen beauftragen, sondern nur als Berater*innen. Wir nennen das Disability Mainstreaming. Wir wollen, dass die großen Konzerne Behinderung mitdenken. Es ist damit ihre Verantwortung, und dabei helfen wir ihnen gerne. Aber wir lassen uns nicht als sogenannter Token instrumentalisieren.
Wir sind ein gemeinnütziger Verein, denken unternehmerisch, arbeiten wie eine Agentur und sind agil wie ein Start-up. Das ist schon was Besonderes, glaube ich.
Wie steht es aktuell um die Finanzierung der Sozialheld*innen?
Finanzierung ist ein Dauerthema, immerhin sind wir jetzt 30 Mitarbeiter*innen. Ihnen gegenüber haben wir eine soziale Verantwortung und wollen sie irgendwann entfristen. Wir haben eine sogenannte Time to live – das heißt, wir machen einen Forecast und schauen: Wie lange können wir so weitermachen, wenn sich finanziell nichts ändert? Der Forecast liegt immer bei ein bis zwei Jahren. Danach wären wir pleite.
Das heißt, wir müssen permanent daran arbeiten, dass neue Aufträge reinkommen und wir neue Beratungsgeschäfte machen. Oder, wenn das nicht geht, auch Projekte einstellen, was wir glücklicherweise bisher noch nicht so oft machen mussten.
Wir versuchen zunehmend, uns selbst aus der Beratung und dem betriebswirtschaftlichen Zweckbetrieb zu finanzieren, weil wir manchmal ein Problem mit den Fördergeldern haben.
Welche Herausforderungen bringen Fördergelder mit sich?
Ich sage es mal überspitzt: Wir wollen keine Projekte erfinden müssen, nur damit sie in die Förderperioden und zum Förderthema der Ministerien passen. Nach drei oder fünf Jahren hört einfach das Geld auf zu fließen, und es werden immer nur Innovationen gefördert. Hinzu kommt der extrem hohe bürokratische Aufwand. Dass man auf den Cent genau belegen muss, wofür man diese oder jene Ausgaben gemacht hat usw. Wir alle wissen, dass jeder Businessplan sowieso nur Kaffeesatzleserei ist.
Das ist ein Problem, welches wir als Sozialunternehmer*innen viel mehr gegenüber der Politik kritisieren sollten. Es ist nicht fair, weil die meisten Probleme, die Sozialunternehmer*innen bearbeiten, eigentlich der Staat zu verantworten und damit auch zu lösen hat. Es ist nicht die Verantwortung der Privatwirtschaft oder der Zivilgesellschaft.
Ich kenne so viele Initiativen, die am selben Thema arbeiten – zum Beispiel gerechte Bildung für alle. Dann ist es doch relativ egal, ob es um das Thema Geflüchtete, Arbeiter*innenkinder, Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen geht: Das Problem ist doch eigentlich immer, dass das Bildungssystem in Deutschland chronisch unterfinanziert ist.
Wir wollen den Bildungssektor nicht privatisieren. Wir müssen als Aktivist*innen, Sozialunternehmer*innen und Non-Profits kritisch hinterfragen, inwieweit wir Erfüllungsgehilf*innen in Bezug auf die Privatisierung sozialer Probleme sind. Ich wünsche mir im sozialen Sektor viel mehr Diskurs darüber. Warum tun sich nicht alle Initiativen, die für Bildungsgerechtigkeit kämpfen zusammen und sagen den Bildungsminister*innen in Deutschland, dass es so nicht geht? Warum drohen sie nicht damit, ab sofort ihre Dienste einzustellen, wenn keine bessere strukturelle Förderung stattfindet?
Ich würde sofort mitmachen, wenn es um die Belange behinderter Menschen geht. Aber dann muss die andere Seite auch zum Zuhören bereit sein. Ich habe große Zweifel daran, ob sich das mit einem neoliberalen Finanzminister überhaupt lohnen würde.
Wie sieht euer Beschäftigungsmodell aus?
Wir haben 30 Mitarbeitende, die wir entlohnen. Die meisten arbeiten auf Teilzeit. Unser Anspruch ist, dass sie davon leben können und zusätzlich Erfahrungen in anderen Bereichen sammeln, um den Horizont erweitert zu halten. Zum Beispiel als Freelancer. Außerdem haben viele von ihnen Familien. Teilzeitarbeit kommt ihnen auch dahingehend entgegen.
Uns ist es sehr wichtig, dass wir auch behinderte Menschen in Führungspositionen beschäftigen, die Entscheidungen treffen und dann auch den Nichtbehinderten sagen, wo es lang geht. Der umgekehrte Fall passiert im Inklusionsbereich viel zu häufig.
Dein Tipp für die Suche nach Kooperations-Partner*innen?
Da würde ich gerne trennen zwischen den Sozialheld*innen und mir als Privatperson. Als Privatperson bin ich auch irgendwie zur Marke geworden, und ich habe auf meiner Website strukturiert, was ich den Leuten schicken kann, die mit mir zusammenarbeiten wollen. Die erste Lektion, die ich geben würde: Was nichts kostet, ist nichts wert. Und: Es ist immer leichter, nach Dingen und Sachleistungen wie z.B. Videoproduktion, Papierspende, Druckkosten zu fragen als nach Geld.
Wie positioniert man sich als Non-Profit auf dem Markt?
Mein Wissen diesbezüglich kommt fast vollständig aus meinem Studium – ich habe Werbung studiert. Ein knackiger Name und eine einfach erzählte Geschichte können helfen, da die Aufmerksamkeitsspanne gering ist. Auch eine Metapher kann manchmal Wunder wirken, um zu erklären, wofür man steht. Ein guter Tipp, den ich an der Uni gelernt habe: Wenn du nicht weißt, was du bist, dann fange damit an, zu definieren, was du nicht bist. So entwickelt sich automatisch ein Kern.
Wir sind eine gemeinnützige Organisation, bestehend aus behinderten Menschen in der Führungsetage, weil wir genervt davon sind, dass die meisten NGOs, die sich mit dem Thema Behinderung beschäftigen, aus nicht behinderten Chefs und CEOs bestehen. Also habe ich mir gedacht: Dann sind wir eben so nicht, sondern anders.
Fragt euch: Warum mache ich das, was ich tue an dem Ort, wo ich bin? Vielleicht, weil ich der Erste oder die Einzige bin, oder weil ich einen anderen Dreh habe? Ich glaube, wir alle können uns viel bei Produkten abschauen, die im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie entwickelt werden. Dafür gibt es mittlerweile viele positive Beispiele.
Damals, als wir die Sozialheld*innen gegründet haben, war es schon revolutionär, ein Verein mit einer angeschlossenen Körperschaft zu sein, deren Gewinne am Ende des Jahres in den Verein übergehen. Wir haben uns das von betterplace.org abgeschaut, die ähnlich arbeiten.
Deine Botschaft an die SKala-CAMPUS-Community?
Checkt eure Privilegien. Natürlich ist es nicht automatisch schlecht, wenn man sich als privilegierter Mensch engagiert. Aber macht euch bewusst, dass es immer besser wäre, selbst betroffene Menschen für die jeweilige Thematik kämpfen zu lassen. Wenn ihr jemanden identifiziert habt, der oder die das genauso gut könnte wie ihr, dann stellt euch in die zweite Reihe. Das ist etwas, das man lernen muss und das weh tut.
Und hinterfragt, wessen Erfüllungsgehilf*innen ihr seid: Löst ihr Probleme vom Staat, löst ihr nachhaltig Probleme von Menschen oder geht es darum, dass ihr selbst ein Gefühl von Wirkung, Bestätigung und Applaus haben und eure Miete bezahlen wollt? Wenn Letzteres der Fall ist, dann prüft, wie nachhaltig das ist. Massiert ihr das Problem nur, damit es weiterhin existiert oder löst ihr das Problem?